top of page

Fremd zu sein...

  • Axel
  • 9. Mai 2022
  • 6 Min. Lesezeit

... das kennt vielleicht ein jeder, der zum ersten Mal ein Land mit einer völlig anderen Kultur bereist hat. Der Vorteil einer Reise: Man weiß, dass man in nicht allzu ferner Zeit in seine Komfortzone zurückkehrt. Wie aber geht es den Menschen, die alles hinter sich lassen (müssen), neu anfangen (müssen), sich auf Lebenszeit anpassen (müssen)?

ree

Eine der berühmtesten Textzeilen, die sich diesem Gefühl annimmt, lautet: "I'm an alien, I'm a legal alien, I'm an Englishman in New York." Sting benutzt ein Wort, das ins Schwarze trifft: "an alien". Das Gefühl, von ganz weit weg zu kommen. Aus einer anderen Welt, die so vollkommen anders ist. Unverstanden, irgendwie fehl am Platze, beäugt, gemustert, stigmatisiert. Bemitleidet? "Englishman in New York" ist keineswegs autobiographisch, sondern inspiriert von einem britischen Homosexuellen, der im England der 50er Jahre als 'outlaw of society' gezwungen war auszubrechen und im vermeintlich liberaleren Melting Pot Manhattan einen Neuanfang wagte.


Da das Thema "Fremd zu sein" derzeit - aufgrund von Flucht und den damit verbundenen Ängsten und Hoffnungen - wieder eine neue dramatische Brisanz erlangt hat, schaue ich in diesem Beitrag mal auf einige Platten in meiner Sammlung, die sich in Albumlänge mit dem Gefühl des Fremdseins auseinandersetzen. Dabei sind drei sehr spannende - mehr oder weniger aktuelle - Werke zusammengekommen.


Ozan Ata Canani - Warte mein Land, warte (2021)
ree

Wenn ATA CANANI „Stell Dir einmal vor, du wärst in einem fremden Land zu Gast. Stell Dir einmal vor, du fühltest, dass Du keine Freunde hast“ singt, dann meint er das ernst, verdammt ernst. Ata kommt Mitte der 70er Jahre als 11-jähriger aus der Türkei nach Deutschland. Sein Vater malocht als Gastarbeiter in der Schwerindustrie. Schon damals ist sich der Teenager bewusst, dass er Deutschland nie wieder verlassen wird. Von seinem Vater bekommt er eine bağlama (ein türkisches Saiteninstrument) geschenkt, zur Erinnerung an die Heimat und als Symbol seiner eigentlichen Identität. Da der Teenager keinen Anschluss zu gleichaltrigen Jugendlichen findet, beginnt er zu komponieren. Auf dem Instrument seiner Heimat, Songs über seine Heimat. Die alte wie die neue. So entstehen Songs, wie "Alle Menschen dieser Erde", "Warte mein Land, warte" und das melancholische und schonungslos hinterfragende "Stell Dir einmal vor", in dem Ata beschreibt, wie es sich anfühlt, nur geduldet zu werden, nie richtig dazu zu gehören. Allein zu sein unter vielen.

Sein wichtigster Song aber wird "Deutsche Freunde" werden. Ein zynischer Blick auf das Gastarbeitertum der 70er Jahre, eingebettet in erstklassigen psychedelischen Anadolu-Rock. "Ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören". Ein Blick auf die zwei Welten zwischen Heimatland und Gastland und den verschwommen Raum dazwischen. Knapp 45 Jahre hat es gedauert, bis Atas Musik und Poesie endlich aufgenommen und auf Vinyl gepresst werden sollten. Damals hatte kaum jemand ein Ohr für seine Musik. Türkische Folklore mit deutschen Texten, das passt nicht zusammen. Viele wollten sich diese ganzen Fragen vielleicht auch gar nicht stellen - aus Stolz, aus verklärter Dankbarkeit für die "Deutschen Freunde". Heute sind Cananis Songs ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument. Ein Ventil, das die Gefühle von damals in die Jetztzeit freisetzt und verstehen lässt. An Aktualität und Brisanz haben seine Zeilen in den gesamten 45 Jahren nicht verloren - was einem schmerzlich bewusst macht, wie wenig weit man in all der Zeit tatsächlich gekommen ist. Daher kann man eigentlich nur Danke sagen, für die interkulturelle Brücke, die das Berliner Label Fun in the Church mit der Veröffentlichung von "Warte mein Land, warte" (besser spät als nie) geschlagen hat.

Sarathy Korwar - More Arriving (2019)
ree

Ein Blick nach London, beziehungsweise nach Indien. Genauer gesagt, exakt dazwischen. Denn durch diesen luftleeren Raum irrt SARATHY KORWARs zweites Album "More Arriving", auf der Suche nach der eigenen Identität. Korwar wurde in den Staaten geboren, wuchs aber früh in seiner eigentlichen Heimat Indien auf. Nach seinem Studium zog es ihn für eine musikalische Ausbildung nach London, wo er ein wichtiger Teil der aufstrebenden Jazzszene werden sollte. Trotz der dortigen Erfolge blieb immer eine Frage, die Korwar schwer beantworten konnte: Warum gehören wir nicht dazu? Dieser Identitätsfrage widmet sich sein Zweitwerk in Gänze. Es beschreibt das eigene Fremdsein in einer modernen, kalten Welt - einem London, das sich als bunter Farbkasten versteht, und doch so schwarz-weiß-malt, als sei es tiefste Provinz. Die Frage wird Sarathy Korwar auch nach der knappen 3/4-Stunde "More Arriving" nicht beantworten können. Am Ende heißt es in "Pravasis" (Indian-English für Emigrant): "Temporary people, illegal people, ephemeral people, gone people. Deported. Left. More arriving." Wir werden immer mehr, aber wohin gehen wir?

Im Song "Mango" spielt Sarathy mit der Symbolik der Nationalfrucht Indiens. Dort gilt sie als ein Zeichen von Liebe, Respekt und Freundschaft. Im Kontext von Korwars Song hingegen steht sie für den Stereotypen, die Oberflächlichkeit, die vom Londoner Poetry Slammer Zia Ahmed als Gastsänger messerscharf auf's Korn genommen wird. Indien? Klar, alles Mango. Der Opener "Mumbay" (ein Wortspiel aus dem Metropolnamen Mumbai und ihrem alten Kolonialnamen Bombay) macht deutlich, dass die Identitätsfrage schon in der Heimat beginnt. Wie heißt diese Stadt eigentlich? Wen interessiert's. Was zählt ist das harte Überleben auf der Straße. Mit Worthülsen kriegt man keine Mäuler gestopft. Unter Sarathys fiebrigen Tabla-Rhythmen und dramatischen Saxophonläufen führt Rapper MC Malawi in die engen, gefährlichen Gassen der Stadt, vorbei tausenden Gesichtern, Gerüchen, Stimmen. Ein Moloch der unerfüllten Träume. Und doch Lebensraum für so viele. Ja, "More Arriving" hat wirklich viel zu bieten. Tonnenschwere Gesellschaftskritik auf der einen, musikalisches Facettenreichtum auf der anderen Seite. Unzählige Gastmusiker (britisch wie indisch) würzen dieses Album wie ein - Achtung Stereotyp - scharfes Curry. Ein unbequemes und daher so unglaublich wichtiges Stück Musikgeschichte.


Fehler Kuti - Schland Is The Place For Me (2019)
ree

Julian Warner ist Weltmensch, Wertemensch, Wärmemensch. Als Kopf hinter dem Projekt FEHLER KUTI plädiert der Münchener Kulturanthropologe auf dem Fundament experimenteller Klänge für eine weltoffenere Gesellschaft, für eine bessere Integrationspolitik, weniger Alltagsrassismus und für mehr Wärme im täglichen Miteinander. Daher wundert es wenig, dass der Titel seines Erstwerks mit einem geflügelten Begriff spielt, der sich im Rahmen des Sommermärchens 2006 in Fußballdeutschlands Köpfen manifestiert hat. Die international doch als recht hüftsteif geltende BRD zeigte sich plötzlich von einer neuen kosmopolitischen Seite. Gastfreundlich, herzlich, euphorisch, einladend. Man lag sich in den Armen. Überall - aber ganz besonders auf der bis dato größten deutschen Fanmeile in Berlin. Das wehende "schwarz-rot-gold" verlor sein Geschmäckle. Es wurde zum Symbol eines inkludierenden Patriotismus - eines Stolzes, des sich nicht auf dem Rücken anderer abarbeitet, sondern Ko-Existenzen duldet. "Schland" war plötzlich ein bunter Fleck auf der Landkarte - das Credibility-Barometer schlug in etwa so in die Höhe, wie der Pulsschlag im Viertelfinale gegen Argentinien. Ja, so war es im goldenen Jahr 2006. Und heute? Tja, heute muss man feststellen, dass sich diese weltoffene Euphorie dann doch nur als ein flüchtiges Sommermärchen entpuppen sollte. Genau das ist der Punkt, wo Julian Warner ansetzt. Angefangen beim plakativen Cover, wo "Man of Colour" auf "weiße Frau" trifft. Das wirkt zunächst eher ulkig, unterstreicht aber die Entfremdung, die Julian Warner mit seinem Debut anprangert. Dann der Projektname. Natürlich eine Anspielung auf Afrobeat-Legende Fela Kuti, allerdings "fehlerhaft". So "fehl am Platze" und unverstanden fühlt sich Warner manchmal in seiner Wahlheimat München, in der cosmopolitical correctness und Bauernwitz beizeiten so hart aufeinanderclashen, wie das Küchenmesser ins Brathendl. Dabei will er doch nur mehr "Interracial Love". Musikalisch jongliert sich das Ganze ein zwischen minimalistischer Elektronik, dosierter Ethno-Rhythmik und freigeistiger Einsilbigkeit. Anspieltipps: "Say Yes (X-Cess)", "Mayday Mayday" und "All My Friends".


DAS "GESCHMÄCKLE" DANACH

Nach so viel Fremd-Gefühl, kommt man schwer zurück in die Spur, sondern muss erst einmal hart verdauen. Da schien es mir nur folgerichtig, zu einer Schokolade zu greifen, die genau darauf abzielt, vor der Einnahme zunächst einmal schlucken zu müssen. Braunkäse und Schokolade, da schütteln doch Viele mit den Köpfen. Nein, nein, nein - das kennt man nicht, muss so was sein? Total pervers. Wer mag denn sowas überhaupt? Soll ich es euch verraten? Ich. Denn Axel probiert gerne aus. Und soll ich euch noch was verraten? Mir hat es tatsächlich gefallen. Dieser würzig-kräftige Geschmack des Braunkäses - übrigens eine typisch norwegische Spezialität (in diesem Fall aus Ziegenmolke) - im Zusammenspiel mit den fruchtigen Aromen des karibischen Bio-Kakaos (Haiti). Dazu eine latente Prise Meersalz. Das sind schon ziemlich abgefahrene Welten, in denen man sich da bewegt. Und so kommt die "45 Melk Brunost" von Fjåk Sjokolade nur auf den Tisch, wenn mir mal der Sinn nach etwas ganz Besonderem steht. Bei einem Importpreis von 7,90 € ginge das tatsächlich auch kaum anders. Übrigens: Pittoresker als die Bean-To-Bar-Manufaktur am norwegischen Hardangerfjord kann man kaum Schokolade produzieren. Wie im Bilderbuch. Müsst ihr euch mal anschauen... da zieht es einen echt ganz schnell in die Fremde. In diesem Sinne: Seid tolerant.

ree

Kommentare


Vinyl+Schokolade_Logo_01.png
bottom of page